Über das "C" in CDU: die Welt ist nicht alles

Beitrag von Prof. Dr. Rold D. Cremer

In Diskussionen über die "Werte" der CDU wird häufig gesagt, dass sich mit dem "C" in der CDU das "christliche Menschenbild" verbinde.

Sehr viel weiter ist man mit diesem Ansatz einer Definition allerdings nicht. Man kann das "C" nicht erklären, indem man auf  "christlich" selbst Bezug nimmt. Damit landet man im besten Falle bei einer Umformulierung. Ich fürchte, dass die spezielle Umformulierung "christliches Menschenbild" eher in die Irre führt, weil sie den Blick auf den Menschen richtet. Damit wird der Blick gerade dort verengt, wo eine wichtige Erweiterung aus christlicher Perspektive möglich ist und sich anbietet.

Es geht bei dem "C" eben nicht um ein christliches Bild vom Menschen - jedenfalls nicht nur. Es geht vielmehr um einen ganzheitlichen, auf Schutz und Bewahrung gerichteten Blick des Lebens. Ein Christ würde vielleicht von der individuellen Verantwortung für die Schöpfung sprechen, für sich selbst und für die Verbindungen der Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt.

Das ist es, was die CDU zu einer "konservativen" Partei macht.

Daneben ist die Politik der CDU progressiv und auf Veränderung und Innovation gerichtet, z.B. durch ihr Eintreten für eine marktwirtschaftliche Ordnung, für unternehmerische Freiheit und eine interessengeleitete Außen- und Sicherheitspolitik.

"Christlich" im Namen der CDU bedeutet, dass es bei unseren Werten und bei der von uns geschaffenen und gestalteten Umgebung nicht nur um den Lebensstandard, nicht nur um materielle Umstände geht. Es geht also nicht in erster Linie um soziale Wohltaten, sondern um gelebte Solidarität, um soziale Verbindungen, um Zusammenhalt der Gemeinschaft, um die Natur und unsere Position in der Natur. Und es geht um das Verstehen der Welt, um eine Idee vom Sinn des Lebens, der sich nicht im Materiellen erschöpft.

Die Gegenposition hat am klarsten Karl Marx formuliert. "Religion ist das Opium des Volkes," schrieb Marx 1844, und weiter: "Die Aufhebung der Religion ... ist die Forderung seines wirklichen Glückes." Das - der Versuch, Leben auf die materiellen Lebensverhältnisse, die sog. "realen Produktionsverhältnisse" zu reduzieren - ist der politische Gegenpol, mit den bekannten fatalen Folgen.

Ich habe lange in China gelebt und gearbeitet. China hat sich unter Mao Zedong nach 1949 an die Marxsche Diagnose gehalten. Der Fokus auf die materiellen Verhältnisse hat sich auch nach Mao nicht geändert. Selbstverständlich ist der Aufbau der chinesischen Wirtschaft in den vergangenen vier Jahrzehnten eine gewaltige Leistung. Sie ist schlicht ein Segen für alle, die es ernst meinen mit der Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung. Und es ist, nebenbei gesagt, ein Segen für unsere eigene Wirtschaft.

Aber auch in China fragen die Menschen zunehmend, was die Reformerfolge außer Arbeit, Einkommen und Konsum für ihr Leben bedeuten. Was heißt es heute, Chinese zu sein? Was ist der Wert, was sind die Rechte des Individuums im Kollektiv? Was ist die Identität Chinas? Was ist mit der Partizipation der Menschen an der Gestaltung der Zukunft? Was ist mit der Natur, was mit den über Jahrtausende gewachsenen chinesischen Traditionen passiert? Ist die materielle Welt, die China sich in den letzten vierzig Jahren erarbeitet hat alles?

Zurück zum "C" in der CDU. Der Begriff "Christliches Menschenbild" verkürzt das Potential und das Versprechen der CDU. Das, was das "C" in der CDU uns gibt, reicht über den Menschen und seine materiellen Lebensverhältnisse hinaus. Das "C" gibt uns einen Kompass, der umso notwendiger ist, je unsicherer und unbekannter die Zukunft ist. Das "C" sagt uns auch, dass nicht alles machbar ist, was durchaus wünschenswert erscheint und ebenso, dass wir nicht alles (mit)machen müssen, was machbar ist. Und schließlich: Das "C" trennt uns nicht von Menschen anderen Glaubens. Wir teilen mit ihnen, bei allen Unterschieden, einen Blick, der über die materielle Welt hinausgeht.

 

Rolf D. Cremer
24.02.2020