Wirtschaft braucht Solidarität der Bürger

Ein Beitrag von Prof. Dr. Rolf D. Cremer, 14. April 2020
Kreis-Vorsitzender der Senioren-Union Rhein-Sieg

Wirtschaft braucht Solidarität der Bürger

Die verheerenden Auswirkungen der Maßnahmen zur Kontrolle der Corona-Pandemie auf die Wirtschaft sind über die Osterfeiertage mit Macht in den Vordergrund getreten. Neben schrittwieser Lockerung und staatlichen Stützungsmaßnahmen für bedrohte mittelständische Unternehmen und Arbeitsplätze ist jetzt vor allem Solidarität aller Bürger mit kleinen Geschäften in den Innenstädten dringender denn je gefordert.

In der Finanzkrise 2009 betrug die höchste Zahl neuer Anträge auf Arbeitslosengeld innerhalb einer Woche in den USA 660 Tausend. In Deutschland meldeten rund 25.000 Unternehmen Kurzarbeit an. Die entsprechenden Zahlen in der derzeitigen Corona-Krise sind 6,6 Millionen bzw. 477 Tausend. Das bedeutet, dass der aktuelle Einbruch der Wirtschaft rund zehn- bis zwanzigmal so schwerwiegend ist wie in der Finanzkrise. Der zunehmend herangezogene Vergleich ist jetzt schon die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre.

Die Maßnahmen gegen die unkontrollierte Verbreitung der Infektion sind eine reale Bedrohung für die mittelständischen Strukturen unserer Kleinstädte und Gemeinden. Jeder Spaziergang in die Innenstädte zeigt etwas, dass wir seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt haben. Die Straßen sind leer und leise, die meisten Läden geschlossen. Menschen stehen in Schlangen vor den wenigen Geschäften, die Grundprodukte anbieten dürfen. Die Schulen sind geschlossen. Niemand sitzt bei schönstem Sonnenschein in den Cafes und Restaurants. Die Spielplätze sind mit rot-weißem Plastikband abgeriegelt. Abends ist absolut nichts mehr los.

Das wirtschaftliche und soziale Leben - nicht zu reden vom kulturellen und religiösen Leben - ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Das aktuelle Straßenbild gibt eine düstere Ahnung davon, dass das Überleben sehr vieler Unternehmen und Geschäfte und damit der Zentren gerade der kleinen Städte auf dem Spiel steht. Im Klartext: Wenn diese einmal verschwunden sind, dann wird es schwer, vielleicht unmöglich sein, sie neu zu schaffen.

Gerade auch älteren Mitbürger bereiten die gegenwärtigen Beschränkungen des normalen wirtschaftlichen Lebens Probleme. Gewohnte Geschäfte sind geschlossen und der vielfach angebotene Lieferservice ist für viele schwierig. In langen Schlangen bis auf die Straße zu stehen ist für gehbehinderte Senioren ein weiteres praktisches Problem. Die ohnehin für Ältere wichtige Verfügbarkeit von Taxis und Bussen ist weiter eingeschränkt. Besonders schwerwiegend dürfte auch der Zusammenbruch des sozialen Zusammenlebens in Cafes sein, wo es vielleicht weniger auf das Stück Kuchen und die Tasse Kaffee ankommt, und mehr auf den Kontakt mit anderen, mit Angehörigen, mit Freunden.

Es ist sicher richtig, dass die Politik entschlossen gehandelt hat. Durch rigorose Einschränkungen ist das Bewusstsein für die große Gefahr durch das Virus entscheidend geschärft worden. Die Maßnahmen sind angenommen worden und werden weitgehenst unterstützt. Die Erfolge sind mittlerweile an den Infektionsstatistiken deutlich messbar.

Man darf davon ausgehen, dass mit dem beispiellosen Zusatzhaushalt staatlicher Hilfen ("Bazooka") die persönlichen Bedürfnisse und die kurzfristige Zahlungsfähigkeit von gesunden Unternehmen und deren Arbeitsplätze ein paar Wochen, vielleicht auch zwei Monate gesichert werden können.

Aber staatliche Finanzhilfen helfen wenig, wenn wenig, wenn Vertrauen und Zuversicht fehlen. Decken die Einnahmen noch die quasi-fixen, unvermeidbaren Kosten (Personal, Mieten, Zinsen, Gebühren)? Macht es Sinn, neue Arbeitskräfte einzustellen? Investitionen vorzunehmen? Was passiert mit dem Wert von Unternehmen, die an neue Besitzer weitergegeben werden sollen? Wie sehen junge Unternehmensgründer ihre Zukunft? Wollen wir in einigen Wochen den Anfang einer Welle sehen, in der Schilder "Ladenlokal zu vermieten" die Geschäftszeilen in den Kleinstädten säumen? Wollen wir noch mehr 2$-Läden, noch mehr Secondhand-Shops?

Es ist falsch, ein einziges Ziel über alle anderen Ziele zu stellen. Das tun wir auch sonst nicht.  Wir beschließen wegen des Klimawandels den Kohleausstieg - aber so, das die betroffenen Regionen nicht in Hoffnungslosigkeit versinken. Wir nehmen in der Not Flüchtlinge auf - aber so, dass das Bedürfnis der Bevölkerung nach Ordnung berücksichtigt wird. Alle maßnahmen brauchen, wie die Bundeskanzlerin sagt, Maß und Mitte.

Dagegen konnte man in den letzten Wochen des öfteren hören und lesen, "wirtschaftliche Interessen" müssten zurückstehen. Mit Verlaub: das ist ein schlimmes Missverständnis dessen, worum es bei der Wirtschaft geht. Es geht nicht um "wirtschaftliche Interessen" weniger, die gefälligst warten müssen, bis die wirklich wichtigen Ziele der "Gesellschaft" erreicht bzw. gesichert sind. Es geht um "wirtschaften" als zentrale Aktivität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Es geht um das, womit jeder Haushalt, jeder Arbeitnehmer, jeder Bauer, jeder Krankenpfleger, jeder Lehrer, jeder Handwerker, jeder Künstler, jeder Gastwirt - insgesamt 43 Millionen Menschen in Deutschland - acht und mehr Stunden am Tag, den allergrößten Teil der Zeit verbringt und verbringen muss.

Wirtschaften ist deshalb keine Nebensache, die wir uns hoffentlich bald wieder leisten können. Wirtschaftliche Aktivität ist die Kraftquelle, der Maschinenraum der Gesellschaft. Im Besonderen gilt auch, dass nur durch erfolgreiches Wirtschaften Bund, Länder und Gemeinden die Kraft haben, in einer bedrohlichen Situation wie der gegenwärtigen das Gesundheitssysten zu stützen und massiv auszubauen.

"Lockerung", die NRW Ministerpräsident Laschet plant, bedeutet deshalb nicht nachlassende Wachsamkeit oder gar Leichtsinn, sondern höhere Komplexität im Maßnahmenbündel und ein vorsichtiges Herantasten an Lösungen.

In dieser Situation sind wir alle zu umfassender Solidarität aufgerufen - Solidarität mit der Gesundheit der Menschen und mit deren wirtschaftlichen Tätigkeiten. Im Bereich der Gesundheit scheint das gut zu gelingen.  Bei der Wirtschaft scheint dagegen die Meinung verbreitet, der Staat werde sich darum schon zu gegebener Zeit kümmern.

Das wäre nicht weniger fatal wie Zögerlichkeit bei den gesundheitsschützenden Maßnahmen. Solidarität ist auch in Bezug auf die wirtschaftliche Dimension des Lebens dramatisch gefragt.

In den kleineren Städten bedeutet dies, die kleinen, lokalen Geschäfte zu unterstützen, Schlangestehen in Kauf zu nehmen, das begrenzte Angebot zu akzeptieren, und auch mal höhere Preise als beim Großeinkauf zu zahlen. Dadurch signalisieren wir unser grundlegendes Interesse an lebendigen Innenstädten. Wir sagen den lokalen Geschäftsleuten und den zahllosen Fachkräften und Verkäufern, dass wir an sie denken und mit ihnen durch die Krise kommen wollen. Und wir helfen mit, dass die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den kleinen Geschäften jetzt und in der Zukunft von ihrer Hände Arbeit, nicht von Sozialhilfe, ihre Familien ernähren können.

 

14. April 2020
Prof. Dr. Rolf D. Cremer
Kreis-Vorsitzender der Senioren-Union Rhein-Sieg